Kirgistan – Bei den letzten Cowboys
Liebe Oma,
Kirgistan ist für mich der Inbegriff von Bergen. Ich weiß gar nicht, ob es hier überhaupt Tiefland gibt, und falls ja, will ich da nicht hin. Das Tian Shan Gebirge durchzieht mit seinen Gipfeln über 7000m das gesamte Land und verläuft im Osten bis nach China hinein. An ihm entlang könnte ich nun direkt nach Kashgar in China und in die Wüste Taklamakan fahren. Ich habe mir aber in den Kopf gesetzt, den Tian Shan, wie schon die Alpen vor einem halben Jahr, von Süd nach Nord zu überqueren, bevor ich ins Reich er Mitte aufbreche. Zu verlockend sind die Pässe mit über 3500 und 4000m, hinter welchen sich weite, grüne Hochtäler verstecken, in denen Halbnomaden weit abseits der Zivilisation ohne Stromanschluss und fließend Wasser in Jurten leben und ihre Tiere hüten. An die Abwesenheit einer Dusche habe ich mich im Laufe der Reise mittlerweile gewöhnt und Strom hat mir mein Solarpanel bisher relativ verlässlich geliefert. Dessen Leistung reicht jedoch bei Weitem nicht für ein E-Bike und so sind wir durch den fehlenden Strom ziemlich limitiert, was die Auswahl der Bergpässe angeht. Auf dem geteerten Pamir Highway zwischen Osch und Bischkek wollen wir nicht fahren. Zwar hätten wir da ständig Möglichkeiten, die Akkus aufzuladen und die Landschaft ist auch hier grandios. Aber dass es sich auf der gut geteerten Straße angenehmer fahren lässt als auf den Schotter- und Dreckwegen, die in direkterer Linie über den Tian Shan führen, hat sich auch bei einer ganzen Menge Auto- und Lasterfahrern rumgesprochen. Außerdem wollen wir sehen, wie das Leben abseits der großen Städte und Straßen aussieht. Mein Vater hat zwei Akkus dabei, aber ob ihre Kapazität über die hohen, abgelegenen Pässe reicht, muss nun in akribischer Planung herausgefunden werden, bevor wir einen Pass angehen. Egal ob Landkarten, Google Maps, Satellitenbilder oder der Rat Einheimischer: Wir verwerten alles, was wir haben, um nicht nachher tagelang einen Pass hochschieben zu müssen und dann auch noch zu wenig Essen dabeizuhaben. In Jalal-Abad erfahren wir dann sogar, dass die Straße über den Kaldama Pass so früh im Jahr aufgrund der großen Schneemassen offiziell noch gesperrt ist. 13m hoch sollen sich die Schneewände rechts und links der Straße türmen. Es gibt aber Einheimische, die das Verbotsschild ignoriert und die Überquerung geschafft haben. Wenn es also ein Auto schafft, warum nicht auch wir mit Fahrrädern? Wir wollen es versuchen. Da im Aufstieg die letzte Auflademöglichkeit aber zu weit weg vom Pass liegt, müssten wir gleich am zweiten Tag schon schieben. Deshalb suchen wir einen Taxifahrer, der uns trotz Sperrung den Pass hochfährt. Wir werden fündig und so packen wir die Multitools aus und zerlegen die Fahrräder. Da der Taxifahrer des Englischen nicht mächtig ist, zeigt er mir mit Schraubbewegungen seiner Hand, welche Teile des Fahrrads er gerne noch abmontiert hätte, und ist ganz fasziniert davon, dass ich all diese Schrauben mit nur einem Werkzeug öffnen kann. Auch die Angestellten des Gästehauses packen kräftig mit an und so schaffen wir es, ein Fatbike und ein E-Bike im Kofferraum eines alten Audi 100 zu verstauen. Überall werden alte Säcke, Karton und Schaumstoff aufgetrieben, um die Fahrräder zu schützen, da sie zu einem großen Teil über die Kante des offenen Kofferraums heraushängen. Zum Glück nimmt die Polizei hier Ladungssicherung nicht so extrem ernst, und so kann es dann losgehen. Die junge Kirgisin, die auch nach Kazarman möchte, und sich aus Höflichkeit gleich nach hinten gesetzt hat, haben wir nach etwas längerer Überzeugungsarbeit dann doch noch dazu bringen können, den bequemeren Beifahrersitz zu wählen. Als wir meine zwei 4,8 Zoll Fatbike-Räder mit uns auf die Rückbank des Audis quetschen, scheint sie dann aber ganz glücklich über ihre Wahl zu sein. Nachdem wir einen kaputten Vorderreifen am Auto gewechselt und einige Male den heiß gelaufenen Kühler mit Schnee abgekühlt haben, erreichen wir den Kaldama Pass und damit auch die Schneewände. Die Einheimischen haben nicht übertrieben, der Schnee türmt sich wirklich mehr als 10m hoch an den Seiten des kleinen, aufgrund von Schmelzwasser verschlammten, Weges. Zwischen den Schneewänden bauen wir unsere Räder zusammen und fahren noch ein bisschen talwärts, bevor wir in atemberaubender Kulisse unser Zelt aufschlagen. Am nächsten Tag passieren wir die ersten Halbnomaden, die gerade ihre Jurte für die Sommersaison beziehen. Schon die jüngsten sind zu Pferd oder Esel unterwegs. Je weiter wir Richtung Tal fahren, desto mehr Nomaden treffen wir, hervorragende Reiter, die zahlreiche Pferde von allen umliegenden Hängen zusammentreiben, oder Schafe und Kühe vom Tal auf die Hochweiden bringen.
Einige Tage später, auf dem nächsten Pass, werden wir von einer Halbnomadenfamilie in ihren Bauwagen eingeladen. Die meist in blau gestrichenen Wägen haben an Stellen, wo eine einigermaßen befahrbare Straße vorzufinden ist, oftmals die traditionellen Jurten verdrängt. Es ist Besuch aus dem Dorf da, Freunde und Familie sind gekommen, und da noch Unmengen an Essen übrig sind, dürfen wir uns gleich für ein spätes Mittagessen an den Tisch setzen, bzw an den Teppich am Boden, der als Tisch fungiert. Wir werden mit einem köstlichen Reisgericht und unterschiedlichen Arten von Gebäck verwöhnt, und da das Essen so lecker ist, esse ich mehr als es eigentlich bräuchte. Ein Fehler, denn schon eine gute Stunde später wird dann auch schon zum Abendessen gerufen. Der Teppich wird nun draußen auf der Wiese ausgebreitet und die Männer der Runde platzieren sich im Kreis darauf, während die Frauen in ihrem eigenen Kreis vor dem Bauwagen essen. Ein riesiges Stück Schaf am Knochen liegt vor mir, das ich, selbst wenn ich hungrig wäre, am liebsten noch mit drei anderen teilen würde. Als einzige „Beilage“ gibt es die Brühe, in dem das Schaf gekocht wurde in einer kleinen Schüssel zu Trinken. Ich versuche mein Bestes, muss dann aber nach ein paar Bissen und Schlücken aufgeben. Ich bin froh zu sehen, dass die anderen ihre Portion auch nicht mal bis zur Hälfte schaffen, und dann ebenso liegen lassen. Nur der 17-jährige Neffe des Gastgebers, der in der einen Hand den Schafsschädel hält, in der anderen das Messer, mit dem er genüsslich das Fleisch in kleinen Streifen vom Schädel schneidet und sich in den Mund schiebt, gibt nicht so schnell auf. Er ist der Jüngste am beim Essen, die Kinder sitzen zwar auf den Schößen der Männer, haben aber vorher schon gleich in der Küche vor dem Bauwagen die Innereien des Schafs essen dürfen. Dabei haben sie mich freudestrahlend angeschaut wie ein deutsches Kind, das gerade Hanuta geschenkt bekommt. „They really like it“ sagte der Vater grinsend in gebrochenem Englisch und hielt seinem 2-Jährigen das nächste, für mich unidentifizierbare, Stück Eingeweide hin, während der Kleine sich gerade noch gierig ein Stück Lunge in den Mund stopfte. Dann werden wir zum Schlafen in den Bauwagen gebeten. Dankend nehmen wir an, auch wenn wir unser Zelt draußen schon aufgeschlagen haben. So eine Einladung bekommt man nicht alle Tage.
Liebe Grüße in die Heimat!
Dein Thomas