Endlich den Traum leben!
Liebe Oma,
ich habe Jonny verabschiedet und zum ersten Mal auf der Reise muss ich jetzt komplett selbst entscheiden, wohin ich fahre. Niemand muss in irgendeiner bestimmten Stadt auf den Bus, und ich muss auch niemanden irgendwo abholen oder treffen. Das ist die Freiheit, auf die ich mich so sehr gefreut habe und die einen Trip wie diesen so reizvoll macht. Endlich den Traum leben und genau das tun, was man tun will. Aber jetzt wo diese Freiheit da ist, überfordert sie mich fast. Denn jetzt muss ich erstmal wissen, was dieser Traum ist, was ich will und in meinem Fall auch vor allem wohin ich will. Nach China natürlich, aber das ist noch weit entfernt. Ursprünglich wollte ich noch länger an der Küste entlangreisen, durch Montenegro bis nach Albanien. Das aber wären einige hundert Kilometer mehr als wenn ich den direkten Weg Richtung Osten nehme. Die letzten Wochen haben mir nochmal gezeigt, dass ich eins nicht will: Fahrrad fahren nur um Kilometer zu machen. Ich bin weder an dem kürzesten und direktesten Weg interessiert, noch daran, zu viele Kilometer an einem Tag machen zu müssen. Stattdessen will ich immer stoppen können, wenn ich nette Menschen am Straßenrand treffe und lieber auf kleinen Wegen über die Berge oder durch das Hinterland fahren statt auf breiten, viel befahrenen Straßen im Tal, wenn das Wetter das zulässt. Deshalb beschließe ich, ins Landesinnere abzubiegen. Mein nächstes Etappenziel wird Sarajevo sein, die Hauptstadt Bosniens. Es ist eine Woche schlechtes Wetter vorhergesagt. Trotzdem möchte ich den Blidinje Nationalpark im Westen Bosniens durchqueren. Kroatien verabschiedet mich mit enormer Gastfreundschaft und in Bosnien werde ich mit derselben willkommen geheißen. Als mich Smail und Sehra, ein Rentnerpärchen aus Livno, in ihr Haus einladen, ist es die dritte Nacht in Folge, die ich nicht in meinem Zelt schlafe. So mache ich mich am nächsten Morgen, gestärkt von Fleisch aus eigener Schlachtung und mit einem leckeren Vesper im Gepäck, auf in Richtung Lug. Es ist kalt, und nach kurzer Zeit schon liegt rechts und links der Straße Schnee. Je höher ich komme, desto stärker wird der Wind, der mir direkt von vorne eiskalt ins Gesicht bläst. Ich drehe mein Gesicht leicht zur Seite und fahre weiter gegen den eisigen Wind. Ich komme um eine Kurve und traue fast meinen Augen nicht: vor mir auf der Straße steht eine ganze Herde Wildpferde. Smail hat mich zwar vorgewarnt. Bei Schnee kommen die Pferde wohl gerne an die Straße und lecken das gestreute Salz von der Straße. Trotzdem war ich auf so einen Anblick nicht gefasst. Ich hole die Kamera raus, aber in kürzester Zeit sind meine Hände so kalt, dass ich sie kaum noch bewegen kann. Ich stehe mitten im eiskalten Wind. Trotzdem versuche ich ein paar Bilder von dem atemberaubenden Spektakel zu schießen. Dann fahren Autos heran. Die Pferde aber zeigen sich unbeeindruckt. Selbst lautes Hupen bringt sie nicht aus der Fassung, und die Autos kommen erst nach einiger Zeit weiter. Als ich dann jedoch langsam mein Fahrrad auf die weit mehr als 20 Tiere zählende Herde zuschiebe, schrecken sie zum Glück auf und traben von der Straße. An Fahrradfahrer sind sie wohl nicht so sehr gewöhnt wie an Autos. Ich kann sicher passieren.
Leider bleibt mir der Blidinje Nationalpark verwehrt. Da es frisch geschneit hat, rät mir jeder davon ab, in den Nationalpark zu fahren. Ganz erschrocken schauen sie mich an und sagen „snijeg“ – Schnee, angeblich knietief. Wahrscheinlich übertreiben sie ein wenig, trotzdem sehe ich ein, dass es wahrscheinlich kein Durchkommen gibt. Ich entscheide mich stattdessen über das Hochplateau am Zahum-Pass zu fahren, eine grandiose, fast menschenleere Landschaft, die den verwehrten Nationalpark sofort wieder wettmacht. Als ich den Pass erreicht habe, geht es bergab, vorbei an Seen und kleinen Orten an deren Ufern. Das Wetter ist zwar nicht gut, aber auch nicht miserabel, und somit besser als angekündigt. Doch eine Sache trübt meine Stimmung: mein rechtes Knie quält mich wieder. Ich hatte gehofft, dass die kurze Pause in Sibenik helfen würde, stattdessen aber hatte ich mich die letzten Tage unter Schmerzen oft nur 50 km am Tag vorwärts kämpfen können. Der tägliche Gegenwind hilft dabei auch nicht gerade. Gestern bin ich dann fast 80km gefahren, da es eine Weile brauchte, bis ich einen geeigneten Schlafplatz gefunden habe. Ein Fehler, denn jetzt habe ich wieder ziemlich heftige Schmerzen. Ab Jablanica ist die Straße dazu noch sehr stark befahren und das Knie macht nun ein Ausweichen in die Berge leider unmöglich. Zwei Tage lang schleppe ich mich noch nach Sarajevo. Die letzten Kilometer in der Stadt zu meinem Hostel muss ich sogar in der Ebene schieben. Es geht nichts mehr. Zum ersten Mal habe ich Angst, dass ich es nicht nach China schaffen könnte, und das, wo ich es noch nicht einmal aus Europa raus geschafft habe. Ich bin den Tränen nahe, kann mich aber gerade noch zusammenreißen. Jetzt nicht aufgeben! Ich beschließe, dass ich mir in Sarajevo so lange Ruhe gönnen werde, wie es brauchen wird, dass mein Knie wieder fit ist. Ich quartiere mich erstmal in ein Hostel ein, trockne meine Sachen vom Regen der letzten Tage. Ich hoffe das Beste, und werde die nächsten Tage ein weinig Bosniens Hauptstadt entdecken.